Liber divinorum operum - 1. Schau
von Mark Vornhusen

Die Darstellung der Vision weicht etwas von der Beschreibung im Text ab. Aber die Ähnlichkeit zu Halos ist hier noch deutlicher. Die oberen Flügel entsprechen dem Parrybogen. Die Flügel darunter dem oberen Berührungsbogen. Die Gestalt besteht aus der oberen und unteren Lichtsäule. Das Lamm in seinen Händen ist die Sonne und die Schlange unter ihren Füßen der 22°-Halo zusammen mit dem unteren Berührungsbogen.
“Und ich schaute im Geheimnisse Gottes inmitten der südlichen Lüfte ein wunderschönes Bild. Es hatte die Gestalt eines Menschen. Sein Antlitz war von solcher Schönheit und Klarheit, daß ich leichter in die Sonne hätte blicken können als in dieses Gesicht. Ein weiter Reif aus Gold umgab ringsum sein Haupt. In diesem Reif erschien oberhalb des Hauptes ein zweites Gesicht, wie das eines älteren Mannes. Dessen Kinn und Bart rührten an den Scheitel des ersten Kopfes. Vom Hals der Gestalt ging beiderseits ein Flügel aus. Die Flügel erhoben sich über den erwähnten Reif und vereinigten sich oben. Am obersten Teil der Krümmung des rechten Flügels erschien der Kopf eines Adlers. Dessen Augen waren wie Feuer, und es erstrahlte in ihnen wie in einem Spiegel der Engel Glanz. Auf dem obersten Teil der Krümmung des linken Flügels war ein Menschenhaupt, das leuchtete wie der Sterne Funkeln. Beide Gesichter waren nach Osten gewandt. Von den Schultern dieser Gestalt ging ein Flügel bis zu den Knien. Sie war gewandet in ein Kleid, das der Sonne gleich erglänzte. In ihren Händen trug sie ein Lamm, das leuchtete wie ein lichtklarer Tag. Mit ihren Füßen zertrat die Gestalt ein Ungetüm von entsetzlichem Aussehen, giftig und schwarz, und eine Schlange. Diese hatte sich in das rechte Ohr des Ungetüms verbissen. Ihr Leib schlang sich quer um den Kopf des Ungetüms; ihr Schwanz reichte auf der linken Seite bis an die Füße.”

Die Gestalt, die Hildegard im Süden sieht, ist die Kombination von oberer und unterer Lichtsäule. Der weite Reif aus Gold ist ein Teil des 22°-Halos. Bei den Flügeln handelt es sich um den oberen Berührungsbogen, der sich über den 22°-Halo erhebt und an der Oberseite beginnt. In ihren Händen trägt die Gestalt ein Lamm, das leuchtet wie ein lichtklarer Tag. Vermutlich war das Lamm die Sonne selbst, da Hildegard nicht davon spricht, daß die Gestalt ihre Hände ausgestreckt hat. Aus ihrer Sicht blickt die Gestalt nach vorne und tragt mit beiden Händen vor ihrem Bauch das Lamm. Wenn die Gestalt aus oberer und unterer Lichtsäule besteht, dann ist die Sonne dort, wo Hildegard das Lamm sieht.
Das Ungetüm unter den Füßen (untere Lichtsäule) der Gestalt ist der untere Berührungsbogen zum 22°-Halo, die Schlange der untere Teil des 22°-Halos. Die Sonnenhöhe hat etwa 20° betragen. Bei dieser Sonnenhöhe befindet sich der untere Berührungsbogen noch unterhalb des Horizontes, so daß Hildegard diese Erscheinung im Eisnebel gesehen haben muß. Das zweite Gesicht oberhalb des Kopfes ist die aufgehellte Fläche zwischen Parrybogen und oberem Berührungsbogen. Der Flügel der bis zu den Knie geht ist ein Teil des 22°-Halos. Der Adler und das Menschenhaupt am linken und rechten Flügel dürften Teile des Parrybogens gewesen sein. In Betracht kommen aber auch Bruchstücke des Supralateralbogens, die dann allerdings nicht direkt am obersten Teil der Krümmung der Flügel liegen.