Liber divinorum operum - 7. Schau
von Mark Vornhusen


Die Stadtmauer ist der Horizontalkreis, der Berg der 22°-Halo, die Flügel der Taube der obere Berührungsbogen. Sonnenhöhe etwa 10°. Die Zeichnung stimmt nicht ganz mit den Haloerscheinungen überein. Die Taube hätte innerhalb des Stadtmauer auf dem Berg gezeichnet werden müssen.

“Und wiederum schaute ich: eine gewaltige Stadt. Sie war im Viereck angelegt und teils von einem besonderen Glanz, teilweise von gewissen Finsternissen ringsum wie von einer Mauer umgeben. Inmitten der östlichen Gegend erblickte ich einen gewaltig hochragenden Berg aus hartem und hellem Gestein, in der Form eines feuerspeienden Berges, von dessen Gipfel gleichsam ein Spiegel von solcher Herrlichkeit und Reinheit aufleuchtete, daß er der Sonne Glanz zu überstrahlen schien. In dem Spiegel erhob sich eine Taube mit ausgebreiteten Flügeln, als wolle sie auffliegen. Dieser Spiegel barg zahlreiche Geheimnisse in sich. Er entsandte einen Glanz von großer Breite und Höhe, in dem zahlreiche Mysterien und vielfältige Gestalten verschiedenster Figuren erschienen.”

Wie in der Johannesoffenbarung beschreibt Hildegard die Stadt als ein Viereck. Der Horizontalkreis ist dagegen kreisförmig. Dennoch kommt für die Stadtmauer nur der Horizontalkreis in Betracht. Es ist möglich, daß Hildegard ebenso wie Johannes an die heilige Stadt Jerusalem gedacht hat, als sie die Vision hatte. Jerusalem wird in der Bibel mit quadratischem Grundriß beschrieben. Möglich ist aber auch, daß der Horizontalkreis subjektiv bei tiefem Sonnenstand als quadratisch empfunden wird. Der Berg ist der 22°-Halo, der nun nicht mehr vollständig zu sehen ist, sondern nur noch sein oberer Teil. Auf ihm ist ein Spiegel, der “der Sonne Glanz zu überstrahlen schien”. Dabei handelt es sich um den stark aufgehellten Bereich zwischen oberem Berührungsbogen und Parrybogen. Die ausgebreiteten Flügel der Taube entsprechen dem oberem Berührungsbogen.

“In dem gleichen Glanz, nach Süden hin, erschien eine Wolke, oben leuchtendweiß und unten schwarz. Auf ihr erglänzte eine große Schar von Engeln, von denen einige wie Feuer, andere klar leuchtend, die dritten wie Sterne strahlten. Sie alle wurden von einem Windhauche wie brennende Leuchten bewegt. Auch waren sie voll von Stimmen, die wie das brausen des Meeres ertönten. Und jeder Wind ließ seine Stimme mit Zornesgewalt erschallen und entfesselte damit ein Feuer gegen die geschilderte Schwärze der Wolke. Hierdurch entbrannte jene Wolke ohne Flamme auf die Schwärze zu. Bald aber blies er in sie hinein und ließ sie wie dichten Rauch entschwinden und vergehen. Auf diese Weise jagte er die Wolke in ihrer Auflösung vom Süden über den besagten Berg gegen Norden in einen unermeßlichen Abgrund. Sie konnte sich von nun an nicht mehr erheben, ließ vielmehr nur noch eine Nebelschicht über die Erde hinziehen.”

Hier beschreibt Hildegard Wolken. Teilweise lösen sich die Wolken in dichtem Rauch auf. Möglicherweise beschreibt sie damit Virga Fallstreifen, die sehr helle Haloerscheinungen hervorrufen könne. In den Wolken leuchtet es rot und weiß auf. Da Hildegard nicht die genaue Lage angibt, läßt sich nicht genau sagen, um welche Haloarten es sich gehandelt hat. Möglicherweise waren es Teile von Nebensonnen, dem Supralateral- oder dem Infralateralbogen.

“ Und ich hörte Posaunen vom Himmel erschallen und tönen: Was ist doch das, was bei aller Stärke seiner Eigenkraft verfiel? Und so erstrahlte der weiße Teil der genannten Wolke noch herrlicher als zuvor. Dem Winde aber, der mit seiner dreifachen Stimme die Schwärze dieser Wolke verjagt hatte, konnte nunmehr keiner wiederstehen. Und abermals hörte ich eine Stimme vom Himmel sprechen: (...)”

Auch hier werden wieder Wolken beschrieben. Gerade Wolken aus Eiskristallen können in der Nähe der Sonne hell aufleuchten.