“Und wiederum schaute ich: eine gewaltige Stadt. Sie war im Viereck angelegt
und teils von einem besonderen Glanz, teilweise von gewissen Finsternissen
ringsum wie von einer Mauer umgeben. Inmitten der östlichen Gegend
erblickte ich einen gewaltig hochragenden Berg aus hartem und hellem
Gestein, in der Form eines feuerspeienden Berges, von dessen Gipfel gleichsam
ein Spiegel von solcher Herrlichkeit und Reinheit aufleuchtete, daß er
der Sonne Glanz zu überstrahlen schien. In dem Spiegel erhob sich eine
Taube mit ausgebreiteten Flügeln, als wolle sie auffliegen. Dieser
Spiegel barg zahlreiche Geheimnisse in sich. Er entsandte einen Glanz
von großer Breite und Höhe, in dem zahlreiche Mysterien und vielfältige
Gestalten verschiedenster Figuren erschienen.”
Wie in der Johannesoffenbarung beschreibt Hildegard die Stadt als
ein Viereck. Der Horizontalkreis ist dagegen kreisförmig. Dennoch
kommt für die Stadtmauer nur der Horizontalkreis in Betracht. Es
ist möglich, daß Hildegard ebenso wie Johannes an die heilige Stadt
Jerusalem gedacht hat, als sie die Vision hatte. Jerusalem wird in
der Bibel mit quadratischem Grundriß beschrieben. Möglich ist aber auch,
daß der Horizontalkreis subjektiv bei tiefem Sonnenstand als quadratisch
empfunden wird. Der Berg ist der 22°-Halo, der nun nicht mehr vollständig
zu sehen ist, sondern nur noch sein oberer Teil. Auf ihm ist ein Spiegel,
der “der Sonne Glanz zu überstrahlen schien”. Dabei handelt es sich um
den stark aufgehellten Bereich zwischen oberem Berührungsbogen und Parrybogen.
Die ausgebreiteten Flügel der Taube entsprechen dem oberem Berührungsbogen.
“In dem gleichen Glanz, nach Süden hin, erschien eine Wolke, oben
leuchtendweiß und unten schwarz. Auf ihr erglänzte eine große Schar
von Engeln, von denen einige wie Feuer, andere klar leuchtend, die
dritten wie Sterne strahlten. Sie alle wurden von einem Windhauche
wie brennende Leuchten bewegt. Auch waren sie voll von Stimmen, die
wie das brausen des Meeres ertönten. Und jeder Wind ließ seine
Stimme mit Zornesgewalt erschallen und entfesselte damit ein Feuer
gegen die geschilderte Schwärze der Wolke. Hierdurch entbrannte jene
Wolke ohne Flamme auf die Schwärze zu. Bald aber blies er in sie
hinein und ließ sie wie dichten Rauch entschwinden und vergehen. Auf
diese Weise jagte er die Wolke in ihrer Auflösung vom Süden über den
besagten Berg gegen Norden in einen unermeßlichen Abgrund. Sie konnte
sich von nun an nicht mehr erheben, ließ vielmehr nur noch eine Nebelschicht
über die Erde hinziehen.”
Hier beschreibt Hildegard Wolken. Teilweise lösen sich die Wolken in
dichtem Rauch auf. Möglicherweise beschreibt sie damit Virga Fallstreifen,
die sehr helle Haloerscheinungen hervorrufen könne. In den Wolken leuchtet
es rot und weiß auf. Da Hildegard nicht die genaue Lage angibt, läßt sich
nicht genau sagen, um welche Haloarten es sich gehandelt hat. Möglicherweise
waren es Teile von Nebensonnen, dem Supralateral- oder dem Infralateralbogen.
“
Und ich hörte Posaunen vom Himmel erschallen und tönen: Was ist doch
das, was bei aller Stärke seiner Eigenkraft verfiel? Und so erstrahlte
der weiße Teil der genannten Wolke noch herrlicher als zuvor. Dem Winde
aber, der mit seiner dreifachen Stimme die Schwärze dieser Wolke verjagt
hatte, konnte nunmehr keiner wiederstehen. Und abermals hörte ich eine
Stimme vom Himmel sprechen: (...)”
Auch hier werden wieder Wolken beschrieben. Gerade Wolken aus
Eiskristallen können in der Nähe der Sonne hell aufleuchten.