Leoniden 2001 - Auswertungen von visuellen und Videobeobachtungen
von Sirko Molau und Rainer Arlt

Rückblick

Schauen wir zunächst auf die Leonidenprognosen zurück, die vor dem Maximum 2001 veröffentlicht wurden. Allgemein kann man zwei Gruppen von Prognosen unterschieden. In die erste Kategorie fallen die sogenannten Dust-Trail-Modelle. Sie beruhen auf der Erkenntnis, daß die Staubteilchen den Kometenkern zwar in alle Richtungen verlassen, im Laufe der Zeit jedoch nicht gleichmäßig auseinanderdriften sondern einen sehr langen und schmalen Schlauch von Staubteilchen, einen sogenannten Dust-Trail, bilden. Da der Mutterkomet gravitativen Störungen unterworfen ist, erzeugt er bei jedem Periheldurchgang einen neuen Trail an einem etwas anderen Ort. Zudem sind die Trails selber sowohl gravitativen als auch nichtgravitativen Störungen (Strahlungsdruck durch die Sonne, Yarkovski-Effekt) unterworfen. Die Kunst der Meteorsturmvorhersage besteht nun darin zu berechnen, wo genau sich die Trails zur heutigen Zeit befinden, wie hoch ihre Meteoroidendichte ist und wann ihnen die Erde wie nahe kommt.

Die Dust-Trail-Modelle wurden zwar schon Mitte der achtziger Jahre von sowjetischen Astronomen publiziert [1], erfuhren jedoch erst Ende der 90er Jahre den großen Durchbruch, als man die Leonidenausbrüche mit ihrer Hilfe plötzlich nahezu minutengenau vorhersagen konnte. Vor dem Leonidenmaximum 2001 gab es drei verschiedene Prognosen, die auf den ersten Blick ähnlich waren. Am 18. November sollte gegen 10 Uhr UT ein Leonidensturm über Nordamerika (hervorgerufen durch den 7 Umläufe alten Dust-Trail) und ein zweiter gegen 18 Uhr UT über Ostasien (hervorgerufen durch die 9 und 4 Umläufe alten Trails) zu beobachten sein. Im Detail unterschieden sich die Modelle aber doch (Tabelle 1).
McNaught und Asher [2], die mit ihren Vorhersagen zum Leonidensturm 1999 für das Revival der Dust-Trail-Modelle sorgten, prognostizierten das amerikanische Maximum knapp an der Grenze zu einem Meteorsturm, wohingegen das asiatische Maximum um eine ganze  Größenordnung stärker ausfallen sollte.
Das Modell von Lyytinen et al. [3], das im letzten Jahr die besten Ratenvorhersagen geliefert hatte, ähnelt dem von McNaught und Asher. Zusätzlich wurden jedoch weitere nichtgravitative Effekte bei der Evolution der Dust-Trails einbezogen. Das resultierte in bis zu 30 Minuten abweichenden Maximumszeiten und einem stärkeren amerikanischen und schwächeren asiatischen Peak. Auch hier wurde jedoch die höchste Aktivität in Asien erwartet.
Nachdem Jenniskens aus den Leonidenbeobachtungen der letzten Jahre eine systematische Verschiebung der Dust-Trails senkrecht zur Erdbahn abgeleitet hatte, veröffentliche er eine weitere Prognose [4] mit wieder leicht veränderten Maximumszeiten. Bei ihm sollte der 7-Umläufe alte amerikanische alte Trail deutlich stärker als die beiden asiatischen Trails abschneiden. Erst die Überlagerung der 9 und 4 Umläufe alten Trails ließ bei dieser Vorhersage etwa gleiche Zenitraten an beiden Orten erwarten.

Ein grundsätzlich anderes Modell wurde von Brown und Cooke verwendet [5]. Hier werden nicht Dust-Trails als Ganzes verfolgt sondern gezielt die Ausstoßbedingungen der Meteoroide am Kometenkern modelliert und die Bahnen von Millionen von Teilchen über Jahrhunderte hinweg integriert. Insgesamt scheint die Zahl der simulierten Teilchen aber noch immer deutlich zu klein für präzise Meteorsturmvorhersagen zu sein. Während Dust-Trails im wesentlichen eindimensionale Gebilde sind, muß bei dieser Art der Simulation der gesamte dreidimensionale Raum mit Teilchen gefüllt werden. Bei kleinskaligen Strukturen wie im Fall der Meteorstürme bleiben dann nur wenig simulierte Teilchen übrig. Man muß ein recht grobes Raster wählen, was die spitzen Maxima der Meteorstürme verschmiert. Das dürfte der Grund dafür sein, daß die Prognose wie schon in den letzten Jahren nur wenig mit dem beobachteten Aktivitätsprofil gemein hatte.

Dust-

Trail

McNaught/Asher
Lyytinen et al.
Jenniskens
visuelle Beobachtungen
Videobeobachtungen
UT
ZHR
UT
ZHR
UT
ZHR
UT
ZHR
UT
ZHR
7 Uml.
09:55
800
10:28
2000
10:09
4200
10:39/11:03
1620/1610
10:43/11:02
ZHRAm
9 Uml.
17:24
2000
18:03
2600
17:08
1800
18:16
3430
18:14
2.3xZHRAm
4 Uml.
18:13
8000
18:20
5000
17:55
2700 

Tabelle 1: Dust-Trail-basierte Vorhersagen zum Leonidenmaximum 2001 (aus [2], [3] und [4]) und Ergebnisse von visuellen und Videobeobachtungen.

Leonidenbeobachtungen

Im Arbeitskreis Meteore / VdS FG Meteore wurden insgesamt drei Expeditionen nach Asien geplant und durchgeführt. Eine etwa fünfzehnköpfige Gruppe von zum großen Teil versierten Meteorbeobachtern zog es am weitesten nach Osten zum Bohyunsan-Observatorium in Südkorea. Eine fast doppelt so große Gruppe von Sternfreunden, denen es mehr um das Erlebnis eines Meteorsturms als um systematische Beobachtungen ging, reiste an zwei Beobachtungsorte in Ostchina, und eine dritte Gruppe aus etwa fünf aktiven Meteorbeobachtern hatte sich wie schon 1998 im Khurel-Togoot-Observatorium nahe der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator eingefunden. Wie bereits in SuW [6] berichtet wurde, herrschte an allen Beobachtungsorten in der entscheidenden Nacht optimales Wetter, so daß die Beobachter voll auf ihre Kosten kamen. Weitere Sternfreunde reisten allein oder in kleinen Gruppen nach Australien, den USA und andere Orte. Auch sie waren in den meisten Fällen erfolgreich.

Bereits kurz nach der Beobachtung war klar, daß tatsächlich zwei Meteorstürme zu etwa den vorhergesagten Zeiten aufgetreten waren. Die maximalen Raten waren vergleichbar mit dem Leonidensturm von 1999, auffällig war jedoch der große Anteil heller Meteore (zum Teil mit minutenlangen Nachleuchtschweifen ähnlich wie in der berühmten „Feuerkugelnacht“ von 1998). Die enorme Zahl atemberaubender Earth Grazer war selbst für gestandene Meteorbeobachter ein Novum. Es handelt sich dabei um Leoniden, die bei tiefem Radiantenstand nahezu streifend in die Atmosphäre eintreten, sekundenlang sichtbar sind und über den halben Himmel fliegen. Welches der oben genannten Modelle jedoch am besten zu den Beobachtungen paßte, konnte zunächst nur grob abgeschätzt werden. Erst eine genaue Analyse von visuellen und Videobeobachtungen lieferte die exakten Maximumszeitpunkte und einen direkten Vergleich der beiden Meteorstürme.

Visuelle Beobachtungen

Wenn man ein komplettes Bild von der Aktivität eines Meteorstroms aus visuellen Beobachtungen erhalten möchte, ist es wenig sinnvoll, sich nur auf wenige Beobachter (z.B. die des Arbeitskreises Meteore) zu beschränken. Selbst wenn man die visuelle Grenzgröße der Beobachtern kennt und die Meteorzahlen daraufhin korrigiert, ist jede einzelne Beobachtung mit beträchtlichen subjektiven und zum Teil systematischen Fehlern behaftet (unterschiedliche Beobachtungsrichtung, unterschiedliches Wahrnehmungsvermögen der Beobachter für Meteore, wechselnde Konzentration während der Beobachtung, usw.). Das zeigt sich darin, daß die Zenitraten einzelner Beobachter zum Teil erheblich voneinander abweichen. Aus diesem Grund ist es wichtig, möglichst viele Beobachter weltweit, die alle nach demselben Verfahren beobachten, in die Auswertung einzubeziehen, so daß sich die Fehler Einzelner herausmitteln.

Die von der internationalen Meteororganisation IMO gesammelten visuellen Beobachtungsberichte wurden von Rainer Arlt und Mitstreitern einer genauen Analyse unterzogen [7]. Insgesamt umfaßte die Auswertung Daten von weltweit 177 Beobachtern – darunter auch die des AKM – mit insgesamt 137.146 Leoniden. Abbildung 1 zeigt das resultierende Aktivitätsprofil.

Abbildung Aktivitätsprofil

Abbildung 1: Aktivitätsprofil aus weltweiten visuellen Leonidenbeobachtungen am 18. November 2001. Die stündliche Zenitrate (ZHR) entspricht der Anzahl der Meteore, die ein Beobachter unter optimalen Bedingungen (Radiant im Zenit, Grenzgröße 6.5 mag) pro Stunde sehen würde. Die minimale Intervallänge für einen Datenpunkt beträgt drei Minuten.

Die wichtigsten Ergebnisse waren:

Videobeobachtungen

Bildverstärkte Videokameras haben den Vorteil, daß sie objektiver als visuelle Beobachter sind. Die Beobachtungsbedingungen sind so genau bekannt, daß systematische Fehler weitestgehend ausgeschlossen werden können. Dafür zeichnen sie häufig weniger Meteore als visuelle Beobachter auf (schlechtere Statistik) und außerdem sind viel weniger Videosysteme im Einsatz. Hinzu kommt, daß die Meteorkameras sehr stark untereinander variieren. So kann man zwar mit einer Kamera ein gutes Aktivitätsprofil gewinnen – der Vergleich der Daten zweier Kameras an unterschiedlichen Beobachtungsorten (Amerika/Asien) ist jedoch schwierig. Aus diesem Grund haben sich Sirko Molau und Mitstreiter bei einer ersten Auswertung von Videodaten [8] auf zwei besondere Datensätze beschränkt. Der eine stammt von den zwei identischen bildverstärkten Meteorkameras des AKM, die zusammen 701 Leoniden aufgezeichnet hatten. Eine der Kameras wurde von Hannoveraner Sternfreunden in den USA betrieben, die andere von Aachener Sternfreunden in China. Der zweite Datensatz stammt von einem japanischen Beobachter, der an Bord einer Linienmaschine von Los Angeles nach Taipeh flog und zwei bildverstärkte Videokameras betrieb. Er konnte sogar beide Meteorstürme mit derselben Kamera aufzeichnen. Wir konzentrierten uns auf die Daten der Weitwinkelkamera, die insgesamt 7939 Leoniden aufzeichnete.
Trotz dieser optimalen Randbedingungen gestaltete sich die Auswertung der Videobänder schwierig, da Randbedingungen wie die Beobachtungsrichtung oder leicht verschiedene Grenzgrößen einen deutlichen Einfluß auf das Aktivitätsprofil haben. Erst nach umfangreichen Meteorsimulationen, mit denen die „Empfindlichkeit“ der Kameras für Leoniden in Abhängigkeit von der Uhrzeit bestimmt und die Meteorzahlen entsprechend korrigiert wurden, ergab sich ein konsistentes Bild:

Die beiden korrigierten Aktivitätskurven sind in Abbildung 2 dargestellt. Eine detaillierte Auswertung weiterer Videoaufnahmen, in der die Aktivitätsprofile auf periodische Schwankungen und andere Feinstrukturen hin untersucht werden, steht noch aus.

Abbildung Aktivitätsprofil

Abbildung 2: Aktivitätsprofil aus Leonidenbeobachtungen mit drei bildverstärkten Meteorkameras am 18. November 2001. Die Zahl der Leoniden wurde auf die Beobachtungsrichtung der Kameras (Höhe, Abstand zum Leonidenradiant) und ihre Grenzgröße hin korrigiert. Die Skalierung der Ordinate ist willkürlich und entspricht nicht der visuellen ZHR. Die Intervallänge beträgt 5 Minuten bei 2,5 Minuten Versatz.

Bewertung der Leonidenprognosen

Zunächst einmal kann man sagen, daß der Leonidensturm 2001 die Dust-Trail-Modelle erneut bestätigt hat. Alle Vorhersagen wichen höchstes eine gute Stunde von der Beobachtung ab – von solchen Genauigkeiten hätte man vor Jahren nur träumen können. Von den drei oben genannten Prognosen war auch 2001 wieder die von Lyytinen et al. am zuverlässigsten.
Was die Peakzeit angeht, lieferte sie für beide Stürme die genauste Vorhersage. Man kann also davon ausgehen, daß die zusätzlichen nichtgravitativen Effekte im Modell von Lyytinen die Evolution der Dust-Trails besser beschreiben.
Auch die Ratenprognosen von Lyytinen waren wieder am besten. Für den amerikanischen Meteorsturm trifft die Vorhersage sehr gut zu, während das Modell von McNaught/Asher weit darunter und das von Jenniskens weit darüber liegt. Beim asiatischen Sturm ist die Sache etwas komplizierter, da man die beiden Trails nicht sicher voneinander unterscheiden kann. Es bleibt also offen, wie groß der Anteil jeder der beiden Dust-Trails am beobachteten Maximum war. Klar ist, daß die ZHR in Asien um mehr als einen Faktor zwei höher war als in Amerika. Geht man von einer exakten Überlagerung der beiden Trails aus, lagen alle Prognosen mehr oder weniger zu hoch. Jenniskens ist in diesem Fall am dichtesten am beobachteten Wert, liegt jedoch im Verhältnis zwischen dem amerikanischen und dem asiatischen Trail weit daneben, so daß die von ihm abgeleitete Verschiebung der Dust-Trails durch unsere Beobachtungen nicht bestätigt werden kann.
Bleibt abzuwarten, wie sich die Prognosen für das Leonidenmaximum 2002 verändern, wenn die Modelle an die Beobachtungsergebnisse von 2001 angepaßt werden. Wo man die besten Chancen auf klaren Himmel hat, beschreibt Hartwig Lüthen in seinem Beitrag.

Literatur

[1] E.D. Kondrat’eva, E.A. Reznikov, “Coment Tempel-Tuttle and the Leonid Meteor Swarm”, Sol. Syst. Res., Vol. 19, 1985, 96-101.
[2] R.H. McNaught, D.J. Asher, “The 2001 Leonids and Dust Trail Radiants”, WGN, IMO Journal, 29-5, 2001, 156-164.
[3] E. Lyytinen, M. Nissinen and T. van Flandern, “Improved 2001 Leonid Storm Predictions from a Refined Model”, WGN, IMO Journal, 29-4, 2001, 110-118.
[4] P. Jenniskens, “Model of a One-Revolution Comet Dust Trail from Leonid Outburst Observations”, WGN, IMO Journal, 29-5, 2001, 165-175.
[5] P. Brown, B. Cooke, “Model Predictions for the 2001 Leonids and Implications for Earth-orbiting Satellites”, Mon. Not. R. Astron. Soc., 2001, L19-L22.
[6] J. Rendtel, S. Molau, R. Arlt, “Die Leoniden 2001”, SuW 41-4, 2002, 63-67.
[7] R. Arlt, J. Kac, V. Krumov, A. Buchmann, J. Verbert, “Bulletin 17 of the International Leonid Watch: First Global Analysis of the 2001 Leonid Storms”, WGN, IMO Journal, 29-6, 2001, 187-194.
[8] S. Molau, P.S. Gural, O. Okamura, ”Comparison of the ‘American’ and the ‘Asian’ 2001 Leonid Meteor Storm”, WGN, IMO Journal, 30-1/2, 2002, 3-21.